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Keine Zeit für die richtige Entscheidung?

Der digital getriebene Wandel in der Arbeitswelt lässt permanent neue Berufsbilder entstehen. Orientierung für junge Menschen durch Rückgriff auf das Erfahrungswissen der Role-models und Bezugspersonen wird zunehmend schwieriger. New Work weckt Erwartungen bei den Jugendlichen und produziert Sorgenfalten bei den für Recruiting zuständigen Abteilungen in den Unternehmen. Der Konsens lautet, dass es man sich beruflich zukünftig häufig neu ausrichten muss. In dieser komplexen Arbeitswelt wird es notwendig sein, mehr Zeit in die Beschäftigung mit der Frage nach der passenden Ausbildungs- und Berufswahl zu stecken.

Wohin überhaupt?

„Der digitale Wandel lässt vollkommen neue Berufe entstehen. Wir wissen nur noch nicht, welche.“ (Agenda Austria)

Die Autor:innen wagen dann aber doch den Blick in den Kaffeesud und führen exemplarisch eine Reihe von möglichen Berufen der Zukunft an, alle in ihrer männlichen Form, doch das mag der zweifelhaften Begründung der besseren Lesbarkeit folgen: Algorithmiker, Privatsphäre-Berater, Freizeit-Manager, Gestalter virtueller Räume, Golden-Age-Berater, Robo-Ethiker, Kontrolleur autonomer Fahrzeuge, Technologie-Vermittler.

Zu diesen Berufen gibt es keine Beschreibung auf der Liste der Lehrberufe des Bundesministeriums für Digitalisierung und Wirtschaftsstandort, auch nicht auf den Portalen IBOBB oder der Plattform digitaleberufe.at.

Lediglich bei Freizeit-Berater wird man auf Watchado fündig: „Tourismuskaufmann*frau“ bzw. Hotelkaufmann*frau.

Agenda Austria meint aber etwas anderes: „Dank effizienter Technologien bleibt uns mehr Zeit für das, was im Leben wichtig ist. Einige Menschen könnten mit dieser neu gewonnenen Freiheit überfordert sein. Ihnen hilft in Zukunft ein Berater, der eine individuelle Freizeitgestaltung anbietet.“ Um Missverständnissen vorzubeugen: Die genannten Portale sind großartige Informationsquellen, zum Teil auch mit gleichstellungsorientierten Ansätzen und einige sind medial sehr user:innenfreundlich aufbereitet. Natürlich können diese Berufsbilder nicht zu finden sein, weil es sie ja noch nicht gibt. Andererseits besteht große Einigkeit in der Auffassung, dass Jugendliche auf die zukünftige Berufswelt vorbereitet werden müssen.

Information und Orientierung

Informationsplattformen im Bereich der Berufsorientierung haben auch mit dem „Zuviel an Information“ zu kämpfen: Eine von Annas Garage durchgeführte Analyse bei Lehrer:innen und Schüler:innen hat gezeigt, dass ein mehr an Information nicht mit einem mehr an Klarheit in der Berufswahl einhergeht. Nun ist das informationsbasierte Matching von Interesse und Potenzial auf der einen Seite und Berufsbildern auf der anderen Seite ein notwendiges Verfahren in der Berufsorientierung. Annas Garage ergänzt dieses Verfahren: Schüler:innen der Altersgruppe 15 bis 20 Jahre erhalten die Chance, im Tun, im Verwenden von konkreten Werkzeugen und dem Bearbeiten von konkreten Werkstoffen zu erspüren, was sie begeistert. Der Fokus wird auf die Tätigkeiten gelenkt, die sich in unterschiedlichen Berufsbildern – bestehenden und zukünftigen – wiederfinden. Annas Garage ergänzt den rationalen Aspekt der Berufswahlentscheidung durch emotionale Elemente, nimmt die Macht des Zufalls ebenso ernst wie jene des unvorhergesehenen Anstoßes.

Gute Entscheidung brauchen mitunter Zeit

Die schlechte Nachricht ist, dass Berufswahlentscheidungen unter den beschriebenen Rahmenbedingungen komplexer werden und in vielen Fällen noch mehr Zeit benötigen. Gerade, wenn man Alternativen zu stereotypen Berufswahlentscheidungen im Sinne einer gleichstellungsorientierten Unterstützung der Ausbildungs- und Berufswahl anbieten und unter Umständen traditionellen Mindsets neue Wege zugänglich machen möchte, erhöhen Angebote, die Zeit geben, die Wahrscheinlichkeit bessere Entscheidungen zu treffen.

Bergmann et al. (2017) heben die große Bedeutung von Schnuppermöglichkeiten hervor, auch die Nutzung der Lehrwerkstätten in der Berufsschule. Gleichzeitig sehen sie die begrenzte Wirkung, wenn die notwendige Zeit nicht zur Verfügung steht: „So gab es bspw. in Wien im Rahmen der Wiener Wochen für Beruf und Weiterbildung, die seitens des waff in Kooperation mit verschiedensten AkteurInnen in den Wiener Bezirken organisiert wurden, auch die Möglichkeit, an Führungen in Berufsschulen teilzunehmen, die einen praktischen Teil in der Werkstatt umfassten. An zwei Tagen wurden hier rund 800 SchülerInnen durch 3 Berufsschulen geführt, wobei für jede Klasse ca. 1,5 Stunden zur Verfügung standen (inkl. praktischem Teil in der Werkstatt).“ (Bergmann et al., S. 94)

Längerfristige Kooperationen zwischen Schulen und Unternehmen

Zeit stellt einen wesentlichen Faktor in den Angeboten von Annas Garage dar und ist gleichzeitig ein Schlüsselbereich, da eine direkte Korrelation zwischen der zur Verfügung stehenden Zeit und den Kosten des Angebotes besteht. Schon das Projekt „Unternehmen für Mädchen“ (www.u-f-m.at), das sich im ersten Durchgang primär mit der Frage beschäftigt hat, wie Unternehmen ihre Kultur verändern müssen, um für weibliche Bewerberinnen attraktiv zu werden, hat in seiner Arbeit mit Mädchen explizit darauf hingewiesen, dass nachhaltige Entscheidungen in Bezug auf die Berufswahl Zeit benötigen:

„Hilfreich wird wahrgenommen, wenn Berufswahlentscheidungsprozesse als Prozesse definiert werden, die einen längeren Prozess der Zusammenarbeit brauchen. Es sollen also längerfristige Kooperationen zwischen Schule und Wirtschaft aufgebaut werden. Hier könnten auch gezielte Workshops für Mädchen angeboten werden.“ (UFM)

Zeitdruck und Verunsicherung bei Schüler:innen

Von den befragten Lehrer:innen wird unisono bestätigt, dass die Schüler:innen an den Grenzen ihrer Belastbarkeit sind: Neben hohen fachlichen Anforderungen spielt vor allem die zeitliche Belastung eine sehr große Rolle.

Zusätzlich nehmen Lehrer:innen eine verstärkte Verunsicherung bei einem zunehmenden Teil der Schüler:innen wahr: Primär wird der Abschluss der Matura angestrebt, bei der überwiegenden Mehrheit der Schüler:innen ist klar, dass sie ein Studium beginnen wird. Unklar ist allerdings vielfach, welches Studium gewählt werden soll. Die passende Studienwahl möglichst beim ersten Versuch zu schaffen, wird gleichzeitig immer wichtiger: Ein Wechsel der Studienrichtungen wird durch die Koppelung der Familienbeihilfe an die erreichten ECTS zunehmend schwierig. Der entstehende Druck führt bei vielen Schüler:innen gepaart mit der Verunsicherung, was ein Studienabschluss zukünftig wert sein wird, zur Überforderung. Lehrer:innen sehen sich in dieser Situation oft nicht in der Lage, entsprechende Unterstützung anzubieten. Für das Finden einer Antwort auf die Frage nach dem Lebensentwurf, nach einem „gelingendem Leben“, fehlt überhaupt die Zeit.

Sich Zeit nehmen und unterschiedliche Kanäle nutzen

Die Entscheidungsfindung in Bezug auf Ausbildung und Beruf kann tatsächlich infolge eines starken Impulses erfolgen, dafür haben wir in den Interviews viele Hinweise gefunden. Das schließt allerdings nicht aus, dass diesem prima facie plötzlichen Entschluss nicht eine lange Phase der Unsicherheit vorausgegangen wäre und es bedeutet auch nicht, dass man tendenziell nicht mit einer langen Phase der Entscheidungsfindung rechnen müsste.

Ganz im Gegenteil: Die Ausbildungs- und Berufswahlentscheidung braucht Zeit, die mit unterschiedlichen Formaten am besten genutzt wird: mit Informationen, mit Realbegegnungen, auch mit konkreten Arbeitserfahrungen, mit emotionalen Begegnungen, Beratungen und Coaching von Eltern, Lehrer:innen und Freund:innen, mit Phasen der Reflexion, mit Feedback und vielem mehr.

Zeit ist Geld, lautet eine Binsenweisheit und das trifft auch auf die hier zur Diskussion stehenden Angebote für die Schüler:innen zu. Wenn Maßnahmen gegen Fachkräfte- und Lehrlingsmangel, hohe Ausfallsquoten und stereotype Berufswahlentscheidungen strategische Priorität haben sollen, braucht das Zeit, so anachronistisch das klingt, und Geld. Stärker am Gras zu ziehen ist keine geeignete Strategie.

Literatur

Bergmann Nadja, Lisa Danzer und Barbara Willsberger (L&R Sozialforschung) in Kooperation mit Regine Wieser (2017): Frauen in Technik und Handwerk. Wien.